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Lüneburger Schriftstellerinnen: Rezension

Werner H. Preuß:
Freie Sklavinnen. Anthologie aus Werken Lüneburger Schriftstellerinnen,

Almáriom Verlag,  Bardowick 2017, 296 Seiten, 28,50 €

Vorgestellt werden sechs Frauen, die sich in ihrer Zeit – von 1837 bis heute – mit ihrem Thema auf ihre Weise schriftstellerisch auseinandergesetzt haben. Es sind Mathilde Lammers (1837 – 1905), Pädagogin und Kämpferin für die ökonomische Eigenständigkeit der Frau; Emma Böhmer (1861 – 1943), Kunstfreundin und lebenshungrige Rebellin; Wilhelmine Resimius-Berkow (1862 – 1942), Arbeiterin und plattdeutsche Schriftstellerin; Helene Varges (1877 – 1946), Künstlerin und Pionierin des Naturschutzes; Margarete Boie (1880 – 1946), Schriftstellerin und Journalistin; Geertje Suhr (geb. 1943), nach Amerika ausgewanderte Dichterin.

In einführenden Kapiteln stellt der Autor die jeweilige Schriftstellerin in einfühlsamer Weise in ihren Lebensverhältnissen und Leistungen dar und lässt das jeweils Besondere ihrer Persönlichkeit deutlich werden. Dabei geht es um die grundlegenden Fragen des menschlichen Seins – besser: des weiblichen Seins: es geht um Geschlechtergerechtigkeit, Emanzipation, Teilhabe an Bildung und Ausbildung – am ganzen Leben, Persönlichkeitsentfaltung, Vereinbarung von Beruf, Familie und Freundschaften, Selbstverwirklichung als Künstlerin, Besinnung auf die eigenen Wurzeln. Mit diesen auch heute noch aktuellen Problemen setzen sich diese Frauen als Schriftstellerinnen intensiv auseinander und zeigen dabei die gesellschaftlichen Hindernisse auf.

So schildert Mathilde Lammers in feinen Beobachtungen Veränderungen in ihrer heimatlichen Landschaft, die auf Umweltprobleme hinweisen, wie sie z.B. beim Eisenbahnbau durch die beginnende Industrialisierung entstehen. Ebenso anschaulich beschreibt sie das Wohnhaus ihrer Kindheit, das Treiben der Menschen um sich herum, und lässt neben ihren Charakteren das Lüneburger Stadtleben des Biedermeier in der Mitte des 19. Jahrhunderts lebendig werden. Allerdings war ihr eigentliches Anliegen die Förderung der ökonomischen Eigenständigkeit der Frau, ihre Unabhängigkeit vom Ehestand, und als Voraussetzung dafür die Reform der Mädchenbildung. In kämpferischer Formulierung prangert sie an: „Die staatsbürgerlichen Rechte der Frauen sind in unserem Vaterlande bekanntlich schon seit der Römerzeit mit denen von Kindern und Idioten gleich! Wo es sich dagegen um Pflichten handelt, da betrachtet der Staat diejenigen Frauen, für die kein Mann eintritt, ohne weiteres als mündige Wesen. Sie müssen Steuern zahlen, so gut und so hoch wie Männer…“[1] Ihr Tipp für Mädchen und Frauen: Nur durch Arbeit ist eine zufriedenstellende Existenz möglich.

Die überwiegend in plattdeutscher Sprache schreibende Wilhelmine Resimius-Berkow (1862 – 1942) führte nach schweren Schicksalsschlägen ein bescheidenes Leben in Armut, das sie offen und sensibel in der Wahrnehmung der Geschicke anderer bleiben ließ. „Leben und Natur wiesen ihr den Weg zu dem Geheimnis (d.h. zum Wesen des Gedichts), gaben ihren Erzählungen und Liedern den Inhalt, und die Volkssprache der Heimat, in der sie alles, was sie fühlte und sich vorstellte, so echt und so zum Greifen deutlich zu sagen vermochte …“[2]

Helene Varges und ihre Freundin Margarete Boie sind Künstlerinnen, von beiden sind Zeichnungen, Buchillustrationen und Bilder erhalten, beide waren schriftstellerisch tätig – die eine mehr als Grafikerin und Malerin, die andere als Journalistin und Schriftstellerin. Während Helene Varges – bei allen Schwierigkeiten für Frauen, eine qualifizierende Ausbildung geschweige denn ein Studium zu beginnen – sich zur Künstlerin ausbilden lassen kann, bildet sich Margarete Boie im Selbststudium in den Naturwissenschaften. Die Einstellungen der jungen Frauen sind geprägt von den Ideen der Lebensreformbewegung und der Solidarität unter Frauen. „Die weiblichen Hauptfiguren, die in Margarete Boies Werken positiv dargestellt werden, sind vor allem Frauen, die nach Bildung und Selbständigkeit streben bzw. schon charakterstark ein unabhängiges Leben führen.“ Diesen Weg schlug Margarete Boie selbst ein.[3] In späteren Artikeln setzt sie sich kritisch mit der Berufstätigkeit von Frauen und weiteren damit im Zusammenhang stehenden Problemen auseinander und ist so heute noch aktuell. Beiden gemeinsam ist auch ihr naturwissenschaftlich-biologisches Interesse, das sie nach Helgoland und Sylt führt, wo sie Reiseführer mit Abbildungen von Pflanzen und Seetieren verfassen, später bringt Helene Varges auch ornithologische Werke heraus wie z.B. das „Verzeichnis der Vögel, die bei Lüneburg in den Jahren 1911-1913 beobachtet sind“.[4] Doch auch andere Kunstwerke: schöne Exlibris, Landschaften und Porträts, sind erhalten und sogar in jüngerer Zeit wieder veröffentlicht worden. Während die Anfang des 20.Jahrhunderts verbreiteten Ideen der Lebensreformbewegung mit ihrem ausgeprägten Naturbezug das Schaffen der Freundinnen beeinflussten, setzt durch das Erleben der Weltkriege von anfänglich nationaler Begeisterung bald ein Wandel zu einer realistischen Wahrnehmung ein. Dabei gelingt es besonders Margarete Boie, ihren genauen Beobachtungen des Kriegsbeginns zum 1.Weltkrieg und später ihren Fahrten durch das ausgebombte Berlin im 2.Weltkrieg Formulierungen und Andeutungen einzufügen, die ihre Texte zu Antikriegsliteratur werden lassen und damit ihre inzwischen kritische Haltung erkennbar werden lässt.

Einfühlsam zeigt der Autor die lebensbedrohliche Daseinsbewältigung unter totalitären Verhältnissen auf und weist auf die geschickten, klugen Formulierungen in Texten hin, die ihre ideelle Entwicklung aufzeigen, ihr aber Repressalien durch die Zensur ersparten.

Mit Geertje Potash-Suhr wird eine feministische Kosmopolitin vorgestellt. Sie lebt heute noch 75jährig in Chicago. Ihre Biografie und ihr schriftstellerisches Werk sind ebenfalls äußerst beeindruckend.

Dieses Buch vermittelt Einblicke und Erkenntnisse in die vielfältigen Facetten der Frauenleben des 19. und 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus zeigt es die kritische Wahrnehmung der vorgestellten Frauen hinsichtlich gesellschaftlicher Gegebenheiten und ihr Engagement für Geschlechtergerechtigkeit. So sind sie auf ihre Weise Mitstreiterinnen im Kampf um die Gleichberechtigung, für die viele andere Frauen auch gekämpft haben – bis zu Elisabeth Selbert, die als eine der „Mütter des Grundgesetzes“ 1949 die lapidare und doch so schwer errungene Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ des § 3,2 des Grundgesetzes durchgesetzt hat.

Neben den biografischen Angaben und den ausgewählten Texten der Schriftstellerinnen enthalten die Kapitel umfangreiche Verzeichnisse der Werke der Künstlerinnen. Es ist reich illustriert mit Bildern in graphischer Bearbeitung durch den Autor. Jedem Kapitel ist ein Porträt der jeweiligen Frau vorangestellt, die Seiten sind aufgelockert mit historischen Abbildungen von Häuser, Straßen- und Stadtansichten, Landschaften und dekorativen Pflanzendarstellungen. Die Darstellungen der Epochen und der in ihnen lebenden Menschen lassen Geschichte lebendig werden. Darüber hinaus ist es auch ein besonderes Vergnügen, die Werke dieser bedeutenden Frauen – Schriftstellerinnen und Künstlerinnen – kennen zu lernen.

Regina Contzen
März 2018

[1] Werner H. Preuß: Freie Sklavinnen, S.15
[2] Ebda. S 113
[3] Ebda. S. 189
[4] Ebda. S.150

Leseprobe:
Werner H. Preuß: Freie Sklavinnen. Anthologie aus Werken Lüneburger Schriftstellerinnen, Almáriom Verlag,  Bardowick 2017 :
Mathilde Lammers – Anstandsbegriffe