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Krüger, Helga (1940 – 2008)

Helga Krüger war Professorin für Soziologie an der Universität Bremen, sie trug wesentlich zur Entwicklung der Frauen- und Geschlechterforschung bei und war Mitbegründerin des Studiengangs Pflegewissenschaft.

1.4.1940 in Essen – 22.2.2008 in Bremen

Helga Krüger wuchs in einer Drei-Generationen-Familie auf. Nachdem ihr Vater zwei Wochen nach ihrer Geburt im Krieg getötet worden war, zog ihre Mutter mit ihrer Tochter und dem drei Jahre älteren Sohn zu ihren Eltern nach Dortmund. Der Großvater, der nach einem Unfall in seiner Bergarbeiterlehre ins Büro gewechselt war und den Aufstieg zum Prokuristen in der Zeche Achenbach geschafft hatte, ernährte mit seinem Gehalt die ganze Familie. Obwohl sowohl ihre Großmutter, gelernte Weißnäherin, als auch ihre Mutter, die nach dem Besuch des Gymnasiums Zahnarzthelferin gewesen war, immer bedauerten, keine qualifizierte Ausbildung genossen zu haben, sollte Helga nach dem Willen der Familie das Gymnasium nach der Mittleren Reife verlassen. Sie wehrte sich erfolgreich, machte ihr Abitur und erkämpfte sich, diesmal mit Unterstützung des Großvaters, das Recht – genau wie ihr Bruder – studieren zu dürfen.

Helga Krüger (1991) (c)Elfriede FoltaOkyere

Ihr Widerstandsgeist war früh ausgeprägt. Schon als Kind hatte sie sich geweigert, sich einschränkenden Vorstellungen davon zu unterwerfen, wie ein Mädchen zu sein hatte und was ein Mädchen tun konnte. Die lächerliche Seite der Inszenierung einer Geschlechterrolle erschien ihr schon als Schülerin im Mädchengymnasium offensichtlich. Leistung, so dachte sie, hatte nichts mit dem Geschlecht zu tun, und sie war wild entschlossen, sich hier keine Grenzen setzen zu lassen. Bedrohlich allerdings erschien ihr die in die Geschlechterordnung eingeschriebene Abhängigkeit der Frau vom Mann in der Ehe. Also beschloss sie schon mit zehn Jahren, keinesfalls zu heiraten und Kinder zu bekommen.

Bei der Studiengangswahl konnte sie sich allerdings zunächst nicht gegen die Wünsche der Familie durchsetzen: sie sollte Lehrerin werden, denn dieser Beruf ließe sich gut mit Familienpflichten vereinbaren. Obwohl sie weder Lehrerin werden noch eine Familie gründen wollte, fügte sie sich, setzte aber ihre gewünschte Fächerkombination Sport und Romanistik durch. Für Romanistik entschied sie sich auch, wie sie in einem Rückblick auf ihren Karriereweg [1] schrieb, gerade weil sie in der Schule nicht besonders gut in Französisch gewesen war. Damit konnte sie begründen, dass sie nach dem Abitur für ein Jahr in Frankreich leben musste, als Aupair in Paris und in Nizza.

Ihr Studium begann sie, finanziert durch ein Stipendium für Kriegshalbwaisen, im Herbst 1960 in Marburg, und wechselte schon ein Jahr später nach Kiel. Auch um ihr Stipendium nicht zu gefährden, studierte sie sehr schnell und mit guten Ergebnissen, was sie aber nicht daran hinderte, nebenbei auch noch Jura (fand sie schnell uninteressant), Philosophie, Politologie und Soziologie (fand sie sehr aufregend) zu studieren. Denn Lehrerin wollte sie nach wie vor auf keinen Fall werden. Eine konkrete Alternative hatte sie allerdings auch nicht. Als ein Kommilitone ihr im vierten Semester so nebenbei mitteilte, dass er Professor werden wollte, erschien es ihr ungeheuerlich, dass jemand einfach so eine Universitätskarriere planen konnte.

Am liebsten hätte sie, wie sie in ihrem Rückblick schrieb, endlos studiert. 1964 bewarb sie sich, mit der schon im Entwurf eingereichten Promotion, erfolgreich für ein Forschungsstipendium in Bogotá. Die Erzählstruktur von Märchen war ihr Thema. Ein Jahr lang reiste sie, oft ganz allein, mit ihrem Tonband durch Kolumbien, um zu untersuchen, wie Märchen in verschiedenen Gebieten und Bevölkerungsgruppen erzählt wurden. Eine Zeitlang lebte sie in einer Wohngemeinschaft mit sieben Lateinamerikanerinnen in der Provinz Córdoba. Das Jahr in Kolumbien war ein entscheidendes: zum einen war ihre Lust an der wissenschaftlichen Arbeit endgültig geweckt, ihre erkenntnisleitende Frage, die Verquickung von Kultur und Sozialstruktur, gefunden. Sie wollte Soziologin werden, das war nun klar. Zum anderen hatten die Erfahrungen in Kolumbien mit seinem (von den USA) abhängigen Kapitalismus und seiner extremen sozialen Ungleichheit ihr politisches Bewusstsein geweckt, und nach ihrer Rückkehr wurde sie Mitglied im SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund.

Zurück in Kiel, machte sie 1967 zunächst ihr Staatsexamen in Romanistik und Sport (zwei Jahre später noch in Soziologie), bewarb sich sofort anschließend erfolgreich um ein Promotionsstipendium, schloss ihre literatursoziologische Dissertation über „Die Märchen von Charles Perrault und ihre Leser“ in nur zwei Jahren ab und begann ihre Universitätslaufbahn 1970 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der gerade gegründeten Fakultät für Soziologie in Bielefeld, in der damals noch so genannten Entwicklungsländer-Soziologie, setzte sie als wissenschaftliche Rätin und bald Oberrätin am Institut für Soziologie in Hamburg fort und erhielt schon 1974 den Ruf nach Bremen. Sie wurde Professorin für Familiensoziologie, Familiale und Berufliche Sozialisation im Studiengang Lehramt Sekundarstufe II mit berufsbezogener Fachrichtung, Fach Soziologie/Sozialpädagogik.

Noch in Kiel hatte sie, im Sommer 1969, Wilfried Müller kennengelernt (den späteren Rektor der Universität Bremen), der wie sie aktiv in der Kieler Studentenbewegung war. Als er, der als Diplom-Chemiker parallel Philosophie studiert hatte, 1971 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Interdisziplinären Zentrum für Hochschuldidaktik in Hamburg wurde, bewarb sie sich in Hamburg. Sie zogen zusammen und verfolgten einige Jahre gemeinsam intensiv ihre wissenschaftlichen Karrieren und ihr hochschulpolitisches Engagement.

Die Entscheidung, eine Familie zu gründen, trafen sie sehr bewusst, parallel zu Helga Krügers Entscheidung, den Ruf nach Bremen anzunehmen. Ihre Zwillingstöchter wurden im Februar 1975 geboren, Helga Krüger machte ein Semester Pause und stieg dann wieder voll ein. Wilfried Müller hatte inzwischen auch eine Professur in Bremen erhalten und für beide war klar, dass das Thema Vereinbarkeit ein gemeinsames war. Mit Hilfe eines Kindermädchens, zusätzlich erleichtert durch die Wohngemeinschaft mit einem befreundeten Rechtswissenschaftler, der alleinerziehender Vater eines Sohnes war, war es ihnen beiden möglich, wenn auch nicht ohne Anstrengung und Anspannung, hohes Engagement im Beruf und ein glückliches Familienleben miteinander zu vereinbaren.

Helga Krüger gehörte zur ersten Generation von Frauen, die als Soziologinnen auf Professuren an die Universitäten gelangten und das Fach in deren Expansionsphase entscheidend mit prägten.

Ihr Weg in die Wissenschaft, der im Nachhinein fast geradlinig erscheint, war für sie, wie sie in ihrem biographischen Rückblick schreibt, „eine Entdeckungsreise zu mir selbst, in der Privates und Öffentliches, Struktur und Handlung, eigenes und fremdes Tun auf spezifische Weise zusammengingen.“[2]

Durch diese Entdeckungsreise entwickelte sie sich von der „eher geschlechtsnaiven“[3] Studentin, die die mangelnde Repräsentanz von Frauen an den Hochschulen unreflektiert hinnahm, sich nicht benachteiligt fühlte und sich von der Überzeugung ihrer männlichen Mitstudenten, dass Weiblichkeit und Leistung einander ausschließende Gegensätze seien, nur kurzfristig irritieren ließ, zu einer der Pionierinnen der in den 70er Jahren entstehenden Frauen- und Geschlechterforschung.

Dass sie „strukturelle Zusammenhänge der Geschlechterdiskriminierung z.B. im Bildungs- und Berufssystem als empirischen Forschungsgegenstand so lange übersehen konnte und dennoch eine der ersten war, die sich diesem widmete“[4], fand sie im Nachhinein selbst erstaunlich. Die damals in der Soziologie verbreitete Blindheit gegenüber Fragen des Geschlechterverhältnisses hat dann, wie sie später schrieb, ihr Insistieren auf empirischer Forschung in diesem Feld eher beflügelt.

Schon die Projekte, die sie im Bremer Projektstudium der 70er Jahre entwickelte, befassten sich mit Themen wie Geschlechterdifferenzierungsprozessen im Kindergarten, Technisierung der Hausarbeit und den Strukturdifferenzen zwischen Schulberufsausbildungen (in den „Frauenberufen“) und Lehrvertragsausbildungen im dualen System mit ihren unausweichlichen Folgen für männliche und weibliche Lebensläufe.

Die soziale Strukturierung von Geschlechterverhältnissen und die Rolle, die Institutionen wie Bildungs- und Rechtssystem, Arbeitsmarkt und Familie dabei vor allem in weiblichen Biographien spielten, wurden zu einem ihrem Hauptforschungsschwerpunkte. Sie prägte entscheidend den sozialpolitisch sehr einflussreichen Institutionenansatz in der Frauen- und Geschlechterforschung.

Bei diesen Forschungen am Schnittpunkt von Sozialstruktur und Sozialisationsprozessen in Familie, Ausbildung und Beruf galt ihr Interesse zunehmend den Bestimmungsmomenten, die den Wandel des Geschlechterverhältnisses bzw. sozialen Wandel überhaupt behindern oder fördern.

Frauen (insbesondere Mütter kleiner Kinder) sind, so schrieb sie 1990 in einem Aufsatz (gemeinsam mit Claudia Born) „doppelt orientiert, doppelt sozialisiert, doppelt qualifiziert“[5], für die Aufgaben der sozialen Reproduktion in der Familie und gleichermaßen für die Berufsarbeit, sie sind damit Grenzgängerinnen, die durch ihre Anstrengungen, beide Bereiche zu verbinden, den sozialen Wandel insbesondere in Bezug auf die geschlechtliche Arbeitsteilung, aber auch auf die Neubestimmung des Verhältnisses von Arbeit und Leben insgesamt vorantreiben.

Ihr lebenslaufanalytischer Zugriff auf sozialen Wandel erhielt 1988 eine institutionelle Basis im von Helga Krüger mitgegründeten und mitgeleiteten Sonderforschungsbereich der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ (bis 2001). Ebenfalls mitbeteiligt war sie an der Einrichtung der von der Volkswagenstiftung finanzierten Graduate School of Social Sciences.

Aufbauend auf ihrer Forschung hat Helga Krüger sich auch folgenreich in der Politikberatung engagiert. Als Stellvertretende Vorsitzende der Sachverständigenkommission der Bundesregierung für den Siebten Familienbericht (2003 – 2005) hat sie die Konzeption einer lebenslaufbezogenen Familienpolitik wesentlich mitgeprägt. Hier spielte sowohl der von ihr früh vertretene zeitpolitische Ansatz eine Rolle und mündete in den Vorschlag des „Optionszeitenmodells“, als auch das Zusammendenken von Stadtentwicklung (Infrastruktur) und Familienentwicklung.

Sehr wichtig war es Helga Krüger auch, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse mit bildungs- und hochschulpolitischem Engagement zu verbinden. Hartnäckig verfolgte sie das Ziel, Studiengänge zu etablieren, die dazu beitragen sollten, die strukturelle Benachteiligung der Bildungswege in den sozialen Dienstleistungsberufen (Erziehung und Pflege), den klassischen weiblichen „Sackgassenberufen“ also, aufzuheben. So war sie 1994 Mitgründerin und dann auch Leiterin des im Wesentlichen auf ihr Engagement zurückgehenden bundesweit ersten Studiengangs Pflegewissenschaft, der auf das Lehramt an Berufsbildenden Schulen und die Tätigkeit in den berufsbildenden Einrichtungen der Pflege- und Gesundheitsberufe vorbereitete.

Als Frau in universitären Gremien und Entscheidungsprozessen hat Helga Krüger, wie sie in ihrem Rückblick schreibt, durchaus auch „stachelige Erfahrungen“[6] gemacht. Hiervon hat sie sich nicht abhalten lassen, ihre wissenschaftlichen und hochschulpolitischen Ziele weiterzuverfolgen. Auch wenn sie sich aus einigen „Hahnenkämpfen“ bewusst herausgehalten hat, war sie in ihrem inhaltlichen Engagement immer sehr hartnäckig, kämpferisch und auch konfliktfreudig. Helga Krüger war nicht nur eine kreative, von unerschöpflicher intellektueller Neugier getriebene Forscherpersönlichkeit, sondern auch eine mitreißende Lehrerin und gute Didaktikerin. Ihre Studierenden erlebten sie zugleich als fordernd und sehr wertschätzend, offen und herzlich, in ihren Veranstaltungen wurde auch viel gelacht. Ihre Vorträge waren gesellschaftstheoretisch reflektiert, empirisch fundiert, scharfsinnig, anschaulich formuliert und sehr lebendig.

Nach ihrem Ausscheiden aus dem Hochschuldienst arbeitete Helga Krüger weiter an Publikationen, sie war gefragt als Rednerin und als Betreuerin von Doktorand:innen. Außerdem nahm sie 2006 – zum zweiten Mal nach 1998 – eine Gastprofessur an der University of Minnesota an.

Im Oktober 2007 erhielt sie die Diagnose Speiseröhrenkrebs. Die letzten Monate vor ihrem Tod konnte sie weitgehend zu Hause verbringen, und sie war so beliebt bei Kolleg:innen und Studierenden, dass sich ihr Haus in eine Art „Wallfahrtstätte“ verwandelte, so viele Menschen kamen und brachten Blumen. Helga Krüger starb am 22.Februar 2008 mit nur 68 Jahren. Auf ihrem Grabstein findet sich, frei nach Aristoteles, folgende Inschrift: „Wissenschaft beginnt mit dem Staunen, dass die Dinge sind, wie sie sind.“

Margret Nitsche
August 2021

Literatur und Quellen:
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. Siebter Familienbericht. Berlin, 2006.
Heinz, Walter R. Und Gottschall, Karin: In memoriam Helga Krüger. In: Soziologie. Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Leipzig, Juli 2008.
Krüger, Helga: Endlos studieren. Zum Spannungsverhältnis von Widerstand und Verstummen, Engagement und Leistung. In: Ulrike Vogel (Hrsg.): Wege in die Soziologie und die Frauen- und Geschlechterforschung. Autobiographische Notizen der ersten Generation von Professorinnen an der Universität, Wiesbaden, 2006.
Helga Krüger und Claudia Born: Probleme der Integration von beruflicher und familialer Sozialisation in der Biographie von Frauen. In: Ernst-H. Hoff (Hrsg.): Die doppelte Sozialisation Erwachsener. Zum Verhältnis von beruflichem und privatem Lebensstrang. Weinheim/München 1990.
Müller, Wilfried: Prof. Dr. Helga Krüger. In: Uni-Spitzen – Spitzen-Uni. Professorinnen im Porträt (Katalog anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Bremen, 2012.
Weymann, Ansgar: Nachruf auf Prof. Dr. phil. Helga Krüger. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Köln, 2008.
Gespräch mit Wilfried Müller im August 2021.

Anmerkungen:
[1] Krüger, Helga: Endlos studieren, S.64
[2] Krüger, Helga, ebd., S.62
[3] Krüger, Helga, ebd., S.63
[4] Krüger, Helga, ebd., S.69
[5] Krüger, Helga und Born, Claudia, S.60
[6] Krüger, Helga: Endlos studieren, S.71