Nach Martha Heuer, geb. Palme (1925 – 2004), wurde im März 2019 eine Straße im Bremer Stadtteil Gröpelingen benannt. Ihr Name ist einer unter den 616 Namen in der deutschen Liste der „Gerechten unter den Völkern“, deren selbstloser und gefährlicher Einsatz für das Überleben jüdischer Mitmenschen in der Nazizeit in der „Allee der Gerechten“ nahe der Gedenkstätte „Yad Vashem“ in Jerusalem gedacht wird.
Magda Palme wurde am 18.Januar 1925 in Warschau geboren in einer reichsdeutschen Familie, die zu der winzigen deutschen Minderheit in der Hauptstadt des 1918 wiedererstandenen polnischen Staates gehörte. Beide Eltern waren ebenfalls in Warschau geboren: Vater Wilhelm (Jg. 1893) arbeitete als kfm. Angestellter/Lagerverwalter, Mutter Melida (Jg. 1899) war Hausfrau. Daneben gab es noch die Tochter Melida (Jg.1921, lebte in Lodz) und den Sohn Josef. Warschau entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit aus einer Provinzstadt des russischen Imperiums zu einer florierenden Metropole von europäischem Rang, zur achtgrößten europäischen Stadt und zu einem „Paris des Ostens“. 1939 machten die 375.000 jüdische Einwohner 30 Prozent ihrer Gesamtbevölkerung aus und bildeten damit die größte jüdische Gemeinde Europas. Es war also wohl nichts Besonderes, dass die Familie Palme jüdische Nachbarn, Bekannte und Freunde hatte.
Das „normale“ Leben der wenigen alteingesessenen Deutschen in Warschau endete im September1939 aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes mit dem Überfall der Wehrmacht und der Roten Armee auf Polen abrupt. Zwischen dem vom Deutschen Reich annektierten Westpolen und dem von der UdSSR beanspruchten Osten etablierte Deutschland das sog. „Generalgouvernement“ mit der Verwaltungshauptstadt Krakau. Während Deutsche darin Privilegien genossen, wurden ihre polnischen Freunde einer rigorosen Besatzungsherrschaft unterworfen, diente das Generalgouvernement doch als Arbeitskräftereservoir und zur Entrechtung und Ausbeutung der Polen. Darüber hinaus wurde Warschau mit der Ghettoisierung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung zu einer der Hauptschauplätze des Holocaust: Im November 1940 wurden die jüdischen Wohnviertel durch eine Mauer vom Rest der Stadt abgeriegelt, ab Juli 1942 begannen die massenhaften Deportationen in die Vernichtungslager.
Da Mutter und Tochter Palme Zuflucht außerhalb Warschaus gefunden hatten und Vater Wilhelm sowie Sohn / Bruder Josef zur Wehrmacht eingezogen wurden, konnten sie ihre Warschauer Mietwohnung „zur Aufsicht“ ihrer gemeinsamen jüdischen Bekannten Maria Abramska überlassen, die durch falsche Papiere und „typisch arisches Aussehen“ bei den Nachbarn als nahe Verwandte durchgehen konnte und damit gewissermaßen doppelt geschützt war. Anschließend konnten deren Mann sowie die Familien Schwarzfuchs und Goldspiegel mit zusammen fünf Personen auf ähnliche Weise dem Ghetto und damit der Deportation entkommen und dort ein Versteck finden mit der Auflage, die Wohnung auf keinen Fall zu verlassen; versorgt wurden sie von Maria Abramska und Martha Heuer. Vater Wilhelm durfte davon nichts wissen, Sohn Josef besuchte die Wohnung sogar in Uniform. Der mittlerweile siebzehnjährigen Martha Heuer gelang es einmal, durch ihr beherztes Auftreten bei Razzien und Ausweiskontrollen durch Polizei / SS eine Wohnungsdurchsuchung abzuweisen. Dieses Arrangement dauerte von Mitte 1943 bis August 1944. Entgegen kam ihnen dabei die Tatsache, dass deutsche Familien und Wohnungen in Warschau mittlerweile nichts Besonders oder Auffälliges mehr hatten, war doch die Zahl der Deutschen auf knapp 70.000 angewachsen, hauptsächlich Militär- und Sicherheitspersonal sowie Zivilisten für die Besatzungsverwaltung, darunter auch viele Frauen. Die Zwei-Zimmer-Wohnung der Palmes in der vorstädtischen Orankestraße lag in einem Wohnblock, der für deutsches Militär- und Zivilpersonal freigemacht worden war. Der Beginn des Ghetto-Aufstandes (Mai 1943) und die Erhebung der polnischen Heimatarmee (August 1944) führte zur Rückbeorderung aller deutschen Zivilisten nach Deutschland und damit zur Schließung dieser Zufluchtsstätte. Die Eheleute Goldspiegel wurden als jüdisch identifiziert und ermordet, die anderen landeten als polnische Zwangsarbeiter in Deutschland, von wo sie sich nach Kriegsende nach Palästina durchschlagen konnten.
Die Palmes verloren auch jetzt nicht den Kontakt zu ihren jüdischen Bekannten in der Gruppe der Zwangsarbeiter und versorgten sie von Deutschland aus eine Zeit lang mit Nachrichten und Lebensmitteln. Danach riss der Kontakt ab. 1946 wurden sie selbst als „Ausgewiesene“ aus dem Landkreis Breslau über das Flüchtlingslager Uelzen dem Landkreis Diepholz bei Bremen zugewiesen, wo sie Unterkunft in der Gemeinde Gödestorf (1974 in die Stadt Syke eingemeindet) fanden. Hierher kam auch Vater Wilhelm Palme und hier lernte Martha den fünf Jahre jüngeren Verwaltungsassistenten Heinz Heuer (1930 – 2005) kennen; beide zogen 1950 nach Bremen und heirateten dort im Mai 1953. 1951 zogen auch Wilhelm und Melida Palme in die Bremer Meyerstraße; ihre endgültige, dauerhafte Bleibe fanden sie nach einigen Zwischenstationen im Gröpelinger Feierabendweg. Das Ehepaar Heuer konnte nach mehreren Umzügen schließlich in den 60er Jahren Wohneigentum in der Gröpelinger Kulmerstraße erwerben. Nach Bremen kam 1962 aus Lodz auch Marthas Schwester Melida (sie hatte die deutsche und polnische Staatsangehörigkeit), sodass die Familie Palme in Bremen wieder geschlossen beisammen war.
1953 errichtete der Staat Israel per Gesetz die Holocaust – Mahn- und Gedächtnisstätte Yad Vashem in Jerusalem. Offenbar auch im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Adolf Eichmann mehrten sich jüdische Stimmen, man solle nicht nur die Täter zur Rechenschaft ziehen, sondern es müssten diejenigen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, um jüdische Leben zu retten, geehrt werden. Daraufhin wurde am 1. Mai 1962 die „Allee der Gerechten“ in Yad Vashem eingeweiht. Hier werden die Geschichten der Rettung gesammelt, überprüft und dokumentiert sowie feierliche Ehrungen der Retter organisiert. Hierhin haben auch Palmes jüdische Bekannte aus Warschau die Geschichte ihrer Rettung weitergegeben, nachdem sie durch Bekannte in Bremen erfahren hatten, dass ihre Retterin noch lebte. Daraufhin wurden am 18. Januar 1975 Martha Heuer und Melida Palme (diese posthum, da 1972 gestorben) in die Liste der „Gerechten“ aufgenommen und Martha nach Jerusalem eingeladen.
Vom 16. bis 21. März 1975 unternahm die Deputation für öffentliches Dienstrecht der Bremischen Bürgerschaft eine Studienreise nach Israel; der SPD-Abgeordnete Heinz Heuer, Verwaltungsoberinspektor und Spezialist für Personalvertretungsrecht, sehr aktiv im SPD-Ortsverein Ohlenhof und in der ÖTV, nahm daran teil, und es ist zu vermuten, dass seine Ehefrau Martha Heuer mitreiste. So konnte sie ihre jüdischen Freunde nach über dreißig Jahren wiedersehen und in der „Allee der Gerechten“ ihr obligates Bäumchen pflanzen. Diese Feierstunde nahm die Bremer Delegation auch zum Anlass, in Yad Vashem einen Kranz niederzulegen.
Von all diesen Ereignissen – Einsatz für das Überleben jüdischer Mitbürger im besetzten Warschau und Ehrung in Yad Vashem – erfuhr die Bremer Öffentlichkeit nichts. Erst „durch Zufall“, so der Journalist Kurt Nelhiebel (alias Conrad Taler) 2013 in der Zeitschrift „Ossietzky“ unter der Überschrift „Kennen Sie Martha Heuer?“ habe er davon gehört: sein Enkelkind sei mit einem Enkel Martha Heuers befreundet gewesen – dieser habe ihm einen Ausschnitt aus der Stadtteilzeitung „Bremer Westen“ vom April 1975 übergeben; nach der Lektüre des Artikels unter der Überschrift „Hohe Ehre für Martha Heuer“ habe er dann sogleich den „Ossietzky“-Artikel geschrieben und darin angeregt, eine Straße im Stadtteil Gröpelingen nach ihr zu benennen. Obgleich seine Initiative schnell vom Stadtteilbeirat positiv aufgegriffen und der Name Martha Heuer in eine Vorschlagsliste für Straßenbenennungen aufgenommen wurde, dauerte es sechs Jahre, bis es am 25. März 2019 im Beisein von Bürgermeister Carsten Sieling zur Einweihung der neuen Martha-Heuer-Straße kommen konnte.
An Unterlagen für diese biografische Skizze standen mir zur Verfügung:
Daniel Fraenkel / Jakob Borut (Hrsg.), Lexikon der Gerechten unter den Völkern – Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005
Conrad Taler, Kennen Sie Martha Heuer? In: „Ossietzky“, Heft 4, 2013
Conrad Taler, Späte Ehrung für Martha Heuer, in: „Ossietzky“, Heft 6, 2019
Erika Thies, Ein Baum in Yad Vashem, in: Weser Kurier vom 10. März 2014
Rudolf Jaworski / Florian Peters (Hrsg.), Alltagsperspektiven im besetzten Warschau-Fotografien eines deutschen Postbeamten (1939-1944), Marburg 2013
Pressestelle des Senats der Freien Hansestadt Bremen, Mitteilung vom 24. März 1975
Senatskanzlei, Presseerklärung vom 21.03.2019: „Eine unbekannte Heldin – Einweihung der Martha-Heuer-Straße in Bremen-Gröpelingen.“
www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/righteous/milestone. Zugriff am 22.8.2022
Melderegister Bremen und Syke
Der Artikel „Hohe Ehre für Martha Heuer“ in der Stadtteilzeitung „Bremer Westen“ vom April 1975 konnte nicht aufgefunden werden.
Klaus Auf dem Garten, im August 2022