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Schocken, Jeanette (1883 – 1942)

9.7.1883 in Halle/Saale – vermutlich 1942 in Minsk

Die Ehefrau des Kaufhausbesitzers Joseph Schocken kam 1903 nach Bremerhaven. Sie entstammte einer seit 1839 in Halle ansässigen Kaufmannsfamilie. Ihr Vater, Max Isidor Pinthus, war Inhaber eines florierenden, am Marktplatz der Stadt gelegenen Textilkaufhauses, das mit weiteren Kaufhäusern der Familie in anderen Orten in Verbindung stand. Somit ist davon auszugehen, dass Jeanette in einem durch Wohlstand und Bildung geprägten Umfeld aufwuchs und dass sie von Kind an auch mit der Geschäftswelt vertraut war.

Das Ehepaar Schocken hatte drei Kinder: Edith (geb. 3.3.1907 in Brhv.), Heinz (geb. 13.7.1910 in Brhv.) und Hilde (geb. 18.2.1918 in Brhv.). Nach dem Tod ihres Ehemanns im November 1934 übernahm Jeanette Schocken gemeinsam mit ihrem Schwiegersohn Dr. Walter Elkeles, verheiratet mit ihrer ältesten Tochter Edith, die Geschäftsleitung der beiden Kaufhäuser in Bremerhaven und Geestemünde. Organisatorisch waren die beiden vermögensrechtlich selbstständigen Häuser mit der Kaufhauskonzernzentrale Schocken in Zwickau verbunden und mussten nach der „Arisierung“ des Konzerns im Sommer 1938 an die neue Zentrale verkauft werden.

Jeanette Schocken beteiligte sich aktiv am Leben der israelitischen Gemeinde und setzte sich als Mitglied der jüdischen Kaiser-Friedrich-Loge sowie mehrerer Frauen- und Wohltätigkeitsvereine für die sozialen Belange jüdischer Mitbürger ein.

Nach der Pogromnacht 1938 emigrierten Heinz und Hilde Schocken in die USA. Walter Elkeles flüchtete mit seinen Kindern nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen über England nach Palästina. Jeanette Sch. blieb in Bremerhaven, um die Genesung ihrer psychisch erkrankten Tochter Edith abzuwarten. Als sich ihr Gesundheitszustand 1940 schließlich verbesserte, konnten beide, obwohl sich Jeanette Sch. intensiv darum bemühte, Deutschland nicht mehr verlassen.

Sie lebte bis zu ihrer Deportation in ihrer Villa in der Wurster Str.106 in Lehe, sie musste aber andere Juden aus der Region aufnehmen, da ab 1939 im Zuge der antijüdischen Wohnraumpolitik jüdische Mieter zwangsweise in die Häuser jüdischer Besitzer eingewiesen wurden. Zu den Aufgenommen gehörte auch die Familie ihres jüngeren Bruders Erich Pinthus (geb. 2.11.1894), der seit 1925 als Angestellter im Kaufhaus Schocken tätig gewesen war und dem sie ihre besondere Unterstützung angedeihen ließ.

Mit insgesamt 570 jüdischen Frauen, Männern und Kindern aus Bremen und dem Regierungsbezirk Stade wurden Jeanette Schocken und Edith Elkeles wie auch ihr Bruder, dessen Frau und dessen vierjähriger Sohn am 17.11.1941 unter dem Vorwand eines geplanten Arbeitseinsatzes nach Minsk deportiert und sind dort oder an einem anderen Ort ermordet worden.

Nach der Deportation versteigerte ein Auktionator im Auftrage des Finanzamtes Wesermünde öffentlich den noch verbliebenen Hausrat der Familie. Das Privathaus in der Wurster Straße wurde der Kriegsmarine übereignet; es befindet sich seit 1948 im Besitz der Arbeiterwohlfahrt und dient heute unter der Bezeichnung „Villa Schocken“ als Altersheim.

Zur Erinnerung an die Verfolgung jüdischer Bürger wurde in Bremerhaven ein Bürgerpreis für Literatur gestiftet, der seit 1991 als „Jeanette-Schocken-Preis“ alle zwei Jahre vergeben wird. 2001 wurde eine Straße im Stadtteil Lehe nach Jeanette Schocken benannt.

Literatur und Quellen:
Bickelmann, Hartmut (Hrsg.): Bremerhavener Persönlichkeiten aus vier Jahrhunderten. Ein biografisches Lexikon, Bremerhaven 2.Aufl. 2003, S.303-304.
Ernst, Manfred: „Meine Mutter war eine sehr tapfere Frau …“, in: 20 Jahre Bremerhavener Bürgerpreis, S.17-58.
Happel, Hans-Eberhard u.a.: Schocken. Eine deutsche Geschichte, Bremerhaven 2.Aufl.1994.
Hoffmann, Katharina: Zwischen Opfer- und Täterrolle, in: Bremerhavener Beiträge zur Stadtgeschichte III, Hrsg.: Hartmut Bickelmann, Brhv.2001, S.135-170, hier S.137-142.
Weiher, Uwe: Die Jüdische Gemeinde an der Unterweser, Brhv.1989, insbes. S.47, 59-61.
20 Jahre Bremerhavener Bürgerpreis für Literatur. Eine Dokumentation, Brhv.2010.
Stadtarchiv Bremerhaven, Meldekartei Alt-Brhv., Todeserklärung Erich Pinthus.
Stadtarchiv Halle, Auskunft vom 27.2.2002: u.a. Hallesche Zeitung, 17.9.1890.

Katharina Hoffmann