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Enderle, Irmgard (1895 – 1985)

Irmgard Enderle war sozialistische Politikerin, Gewerkschafterin und Journalistin.

28.April 1895 in Frankfurt/Main – 20.September 1985 in Köln

Irmgard Rasch, Tochter eines Gymnasiallehrers, war schon als 14-Jährige in der Wandervogel-Bewegung[1] aktiv. Nach ihrer Ausbildung zur Lehrerin studierte sie seit 1917 Pädagogik und Volkswirtschaftslehre an der Universität Berlin. In diesen Jahren besuchte sie bereits die ersten politischen Versammlungen von Kriegsgegnern, gründete eine sozialistische Studentengruppe, schloss sich im November 1918 dem Spartakusbund und dann der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) an, in deren Parteizentrale sie ab Mitte 1919 arbeitete, ab 1924 eine Stelle als Gewerkschaftsredakteurin bei der KPD-Tageszeitung Klassenkampf in Halle übernahm und ab 1927 den gleichen Posten beim Zentralorgan der KPD Rote Fahne. Mit ihren Themengebieten zeigte sie sich selbst bereits als Gewerkschafts- und Wirtschaftsredakteurin.

Anfang 1929 wurde Irmgard Rasch als Anhängerin der sogenannten rechten Brandler-Gruppe von der KPD-Führung aus der Partei ausgeschlossen. 1932 wandte sie sich der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) zu, der auch der spätere Bundeskanzler Willy Brandt angehörte, mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte. Dort lernte sie auch ihren Ehemann kennen, August Enderle, Journalist und Politiker. Sie ließen sich nach ihrer Heirat in Breslau nieder.

Irmgard Enderle beendete mit dem Beginn des NS-Staates ihre sozialistisch ausgerichtete Parteiarbeit nicht. Im Juni 1933 wurde sie wegen „illegaler Tätigkeiten“ von der Gestapo verhaftet.

Schon nach kurzer Zeit konnte sie im August des Jahres über die Niederlande und Belgien nach Schweden fliehen, wo sie ab 1934 lebte. In Stockholm gehörte sie gemeinsam mit ihrem Ehemann und anderen Widerstandskämpfern – unter ihnen ab 1940 auch Willy Brandt – zu den führenden Mitgliedern der SAPD-Landesgruppe, die unter anderem den Widerstand in Norddeutschland unterstützte. Dabei zählten die Enderles zu den führenden Köpfen der Bewegung und gehörten mit Brandt zu den Hauptautoren der im Juli 1944 veröffentlichten Schrift „Zur Nachkriegspolitik deutscher Sozialisten“, in der sie erklärten, wie eine demokratische Revolution in Deutschland und wie die Außenpolitik eines solchen Staates aussehen könnte. Auch in der Emigration blieb Irmgard Enderle engagierte Journalistin. Vom NS-Staat 1941 ausgebürgert, schrieb sie nun unter den Pseudonymen J. Reele und Kleopatra für die schwedische Gewerkschaftspresse und die Rote Revue in Zürich, nebenbei arbeitete sie als Übersetzerin und Lehrerin.

Im Sommer 1945 kehrte das Ehepaar Enderle nach Deutschland zurück, um den politischen Neuanfang mit zu gestalten. Sie ließen sich in Bremen nieder und wenn sie auch nur zwei Jahre in der Hansestadt verbrachten, hat Irmgard Enderle hier Bedeutendes geschaffen: Sie, bereits 1944 mit der schwedischen SAPD-Landesgruppe im November 1944 der SPD beigetreten, beteiligte sich am Wiederaufbau der Bremer SPD und Gewerkschaften und wurde eines der Gründungsmitglieder der Bremer Tageszeitung Weser-Kurier, in dem sie nun wieder unter ihrem eigenen Namen Rasch-Enderle veröffentlichen konnte. „Je bewußter alle dabei bestrebt sind, die Ehrfurcht vor dem Mitmenschen zur Geltung zu bringen, desto mehr bewahrheitet sich das Lied: Hell aus dem dunklen Vergangenen leuchtet die Zukunft hervor!“, schrieb sie hier am 1.Mai 1946. Irmgard Enderle beschäftigte sich in ihren Artikeln vor allem mit wirtschaftlichen, aber auch frauenpolitischen Themen, die oft auf der Sonderseite „Die Stimme der Frau“ erschienen.

Irmgard Enderle (re) bei der Lizenz-Übergabe amerikanischer Offiziere an Hans Hackmack (1900 – 1970) (Bildmitte in Rückansicht, dahinter Wilhelm Kaisen) zur Gründung des Weser-Kurier, der am 19.September 1945 erstmals erschien.[2]

Mit ihrem frauenpolitischen Bewusstsein und Engagement war sie auch eine der Gründerinnern des Bremer Frauenausschusses (BFA), der überparteilichen Dachorganisation von Frauenorganisationen aus allen gesellschaftlichen Bereichen des Landes Bremen, der sich zunächst für Hilfen für die Bewältigung der elementaren Lebensbedürfnisse nach dem Krieg einsetzte und sich bis heute für die Rechte von Frauen in Bremen engagiert. Mit Irmgard Enderle waren Anna Klara Fischer (1887 – 1967), Agnes Heineken (1872 – 1954), Käthe Popall (1907 – 1984) und Anna Stiegler (1881 – 1963)[3] die Gründerinnen. Den Aufbau der Organisation verbanden sie mit der eindringlichen Aufforderung: „Wir rufen den Frauen Bremens zu: Steht nicht vergrämt und gleichgültig beiseite! Kommt und helft! Es geht um euer Lebensglück, es geht um eure Kinder.“

Mit ihrem und von den Gründerinnen gemeinsam unterzeichneten Artikel „Wir rufen euch Frauen“ im Weser-Kurier  trat der BFA am 16.März 1946 an die Öffentlichkeit: „Aufbauwillige Frauen in Bremen haben sich zusammengefunden, um am Wiederaufbau ihrer Vaterstadt tatkräftig mitzuarbeiten. Wir haben einen Frauenausschuss ins Leben gerufen“, der nicht nur „beratend und helfend“, sondern auch „aufrüttelnd und mobilisierend unter den Bremer Frauen wirken“ sollte. Auf allen Gebieten: Ernährung, Wohnen, Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Gesundheit, Kultur, wollten die Frauen ihren Einfluss geltend machen. „Es geht nicht nur um Frauenrechte, sondern im eigentlichen Sinne um Frauenpflichten.“ Nach den Jahren des Nationalsozialismus und dem blinden Vertrauen vieler Frauen in Hitlers Politik sei es nun an der Zeit, dass die Frauen zeigten, dass sie demokratische Freiheiten zu würdigen und sie auch zu nutzen wüssten. So appellierten die Gründungsmitglieder des BFA eindringlich an die Bremerinnen, sich zur Mitarbeit zu melden: „Kommt und helft!“

Irmgard Enderle erkannte, dass es für die deutsche Wirtschaft wichtig sei, Frauen als Arbeitnehmerinnen ernst zu nehmen und nicht, wie nach dem 1.Weltkrieg, sie nach ihrem Einsatz auf allen möglichen Arbeitsfeldern nun wieder zurück in die Hausfrauenrolle zu drängen. „Erstens kann die Frau gar nicht mehr aus dem Erwerbsleben ausgeschaltet werden, dazu gibt es zu viel Arbeitsnotwendigkeit, zu viele Gebiete, auf denen sie sich längst ausgezeichnet und unentbehrlich gemacht hat“, fand Irmgard Enderle. „Zweitens wären wir weit ab von der erstrebten Demokratie, wenn nicht endlich auch die Frauen genauso wie die Männer ein Recht auf Erwerbstätigkeit und Auswahl des Berufs haben sollen.“ Für sie war aber auch die Anerkennung von Hausarbeit entscheidend: „Auch die Hausfrau ist berufstätig! Ihre Arbeit ist notwendig, und es ist grundfalsch, diesen Beruf nicht als vollwertig anzusehen.“[4]

Irmgard Enderle war auch Mitglied der im April 1946 von der Besatzungsmacht ernannten Bremischen Bürgerschaft und anschließend in der im Oktober 1946 gewählten Bremischen Bürgerschaft.

Der Beginn des „Kalten Krieges“ 1947 führte zu Auswirkungen auf die Pressearbeit und zur Entlassung des gesellschaftskritischen Ehepaares Enderle beim Weser-Kurier, das daraufhin im März 1947 nach Köln zog. Hier war Irmgard Enderle von 1948 bis 1949 Mitglied des Wirtschaftsrates der Bizone, von 1947 bis 1949 Redakteurin der Zeitung Bund und von 1949 bis 1951 der DGB-Zeitung Welt der Arbeit sowie als freie Journalistin und in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit tätig. Gleichzeitig bekleidete sie gewerkschaftliche Leitungsfunktionen, so war sie von 1950 bis 1955 Vorstandsmitglied der IG Druck und Papier und zeitweise Vorsitzende der Deutschen Journalisten-Union sowie Vorsitzende des DGB-Frauenausschusses; daneben war sie Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und der Humanistischen Union.

Über die Jahre blieben die Eheleute in engem Kontakt mit Willy Brandt, im gleichnamigen Archiv befinden sich noch heute zahlreiche Korrespondenzen, die unter anderem auf Weser-Kurier-Briefpapier verfasst wurden.

August Enderle starb 1959, über die späteren Lebensjahre von Irmgard Enderle ist wenig bekannt. Kurz nach ihrem Tod am 20.September 1985 war es erneut Willy Brandt, der sie in einem Brief an den SPD-Ortsverband Köln-Sülz würdigte. Der ehemalige Bundeskanzler beschrieb sie als belesene, kritische Zeitgenossin und nicht zu erschütternde Sozialistin. „Mir sind vor allem ihre prägnanten Beiträge zu Diskussionen in Erinnerung geblieben“, erklärte Brandt. „Manchen, der in jenen Jahren mutlos zu werden drohte, hat sie wieder aufgerichtet. Sie hat es verdient, dass wir ihrer nicht nur im Vorübergehen gedenken.“

Regina Contzen
März 2020

Anmerkungen:
[1] Jugendbewegung, die zum Leben in den Städten mit ihrer fortschreitenden Industrialisierung ein Gegenkonzept entwickeln und sich von den engen Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft lösen wollte, um in Einklang mit der Natur ein freieres Leben zu führen. Damit setzte diese Bewegung schon früh Impulse für die Reformbewegung des beginnenden 20.Jahrhunderts.
[2] Der Aufbau einer freien, unabhängigen Presse war im Demokratisierungsprozeß nach 1945 ein wesentliches Ziel der für Bremen zuständigen amerikanischen Militärregierung. Sie fand in dem Sozialdemokraten und Antifaschisten Hans Hackmack den für die Lizenz-Übergabe geeigneten Kandidaten zur Gründung des Weser-Kuriers als Tageszeitung. Irmgard Enderle war von Anfang an mit dabei.
[3] Anna Klara Fischer, parteilos, aus der Abstinenzbewegung vom Frauenbund für alkoholfreie Kultur kommend, Agnes Heineken, Liberale, Käthe Popall, Kommunistin und Anna Stiegler, Sozialdemokratin – Frauen, die schon vor 1933 frauenpolitisch aktiv gewesen waren. Nähere Informationen in: Bremer Frauenmuseum (Hrsg.): Frauen Geschichte(n). Biografien und FrauenOrte aus Bremen und Bremerhaven, Bremen 2016.
[4] Röhling, WK 8.März 2020, Originalzitate von dort.

Literatur und Quellen:
Bohn
, Robert, Jürgen Elvert, Karl Christian Lammers: Deutsch-skandinavische Beziehungen nach 1945, Stuttgart 2000.
Euchner, Walter, Grebing Helga: Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland: Sozialismus – katholische Soziallehre – protestantische Sozialethik; ein Handbuch, S.364.
Kuhnhenne, Michaela: Frauenleitbilder und Bildung in der westdeutschen Nachkriegszeit, Analyse am Beispiel der Region Bremen, Bremen 2015, S.169 f.
Meyer-Braun, Renate, Auf dem Garten, Klaus: Hans Hackmack. Ein Leben für das freie Wort. Broschüre zum Projekt des Staatsarchivs und der Hochschule Bremen.
Röhling, Lisa-Maria: Kämpferin für die Demokratie, WESER-KURIER vom 8.3.2020. – Originalzitate von dort.
Weber, Hermann und Herbst, Andreas: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945. 2.Auflage, Berlin 2008.
https://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/stichwort/enderle.htm
Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Irmgard_Enderle. Zugriff 11.3.2020