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Kolomak, Elisabeth und Lisbeth (1866 – 1943 I 1908 – 1924)

Opfer eines Sittlichkeits- oder Justizskandals

Elisabeth Kolomak: 1866 in Bremen – 1943 in Bremen
Lisbeth     Kolomak: 1908 in Bremen – 1924 in Bremen

In den 1920er-Jahren – mitten in den „goldenen Zwanzigern“ – rückte ein Sittlichkeitsskandal Bremen ins Rampenlicht der reichsweiten Öffentlichkeit. Vor dem Bremer Landgericht wurde 1927 der „Fall Kolomak“ verhandelt. Es war die Geschichte der 1924 verstorbenen Lisbeth und ihrer wegen Kuppelei verurteilten Mutter Elisabeth Kolomak.

Am Anfang stand eine literarische Sensation. 1926 erschien das Buch einer anonymen Verfasserin mit dem Titel „Vom Leben getötet – Bekenntnisse eines Kindes“. Darin schildert ein 16-jähriges Mädchen den Lebens- und Leidensweg eines Mädchens aus einer Arbeiterfamilie, in der das gemeinsame Einkommen der Eltern kaum die Familie ernähren kann und wie es als geschlechtskranke Prostituierte im Krankenhaus zu Tode behandelt wird. Die Kinder dieser Zeit, in Kriegszeiten aufgewachsen, hatten die Wirtschaftskrise der 1920er Jahre überstanden, hatten in den Käuferschlangen für einen Laib Brot angestanden und mit Hamsterfahrten zur Versorgung der Familie beigetragen – sie hatten früh gelernt, selbständig zu sein. Bürgerliche Moralvorstellungen und gesellschaftliche Konventionen hatten ihre einengende Gültigkeit verloren. Für diese Generation eröffneten die gesellschaftlichen Veränderungen, die sich im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben vollzogen, für Mädchen und Frauen neue Räume für vielfältige Lebensgestaltung.

Nach dem Buch reißt die 15-Jährige von Zuhause aus, in der Hoffnung, mit einer Freundin in Berlin ein besseres Leben zu finden. Hier wird sie – ob als Prostituierte oder Opfer von Verführung – mit einer Geschlechtskrankheit infiziert. Von der Sittenpolizei aufgegriffen wird sie nach Bremen zurückgebracht und der Schulmedizin ausgeliefert. Sie wird kaserniert und einer zu der Zeit üblichen medikamentösen Behandlung ausgesetzt, die auch bei Lisbeth Kolomak zu schwersten Nebenwirkungen und zum Tod führte.

Das Buch, das heftige Kritik an Polizei und Krankenhaus übte, war in aller Munde, vor allem als bekannt wurde, dass sich der Fall in Bremen zutrug.

Alfred Faust, Redakteur der Bremer Volkszeitung und SPD-Bürgerschaftsabgeordneter, nahm das Buch zum Anlass, in der BVZ die Versäumnisse bremischer Verwaltung im Sozial- und Justizbereich anzuprangern.

Auch in den Bremer Frauengruppen wurde über das Buch diskutiert. Die Frauen sahen sich in ihrem Kampf gegen die Doppelmoral der Gesetzgebung bestätigt, die die Prostituierten verfolgte, aber die Freier ungestraft davonkommen ließ. In einer gemeinsamen Erklärung forderten die Frauen am 16.Januar 1927 vom Senat als „Maßnahmen zum Schutz der weiblichen Jugend“ die Einstellung einer Frau in leitender Funktion beim Jugendamt, weibliche Jugendleiterinnen auf den Geschlechtskrankenstationen und die Einführung einer weiblichen Polizei, die zu einer Veränderung des sittenpolizeilichen Systems beitragen sollte.[1] Kurze Zeit später folgte eine große öffentliche Frauenveranstaltung mit der ersten deutschen Polizeikommissarin aus Frankfurt/Main als Referentin.

Gleichzeitig wurden die Behörden aktiv. In einer amtlichen Mitteilung wiesen sie alle gegen die Polizei erhobenen Vorwürfe zurück und teilten im Gegenzug mit, dass sich nach einer Überprüfung Verdachtsmomente gegen die Mutter, Elisabeth Kolomak, ergeben hätten. Sie wurde am 28.Januar 1927 verhaftet und am 25.März erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen sie wegen schwerer Kuppelei . Damit hatten sich die Verhältnisse umgekehrt. Die Anklägerin war zur Angeklagten geworden.

Die Bürgerschaft diskutierte den Fall am 25.Februar 1927.[2] Über zahlreiche Presseberichte verbreitete sich die Geschichte in ganz Deutschland, zur Eröffnung des Gerichtsverfahrens am 15.Juni 1927 kamen Journalisten aller wichtigen deutschen Presseorgane.

Drei Tage wurde verhandelt, über 40 Zeugen wurden verhört, und obwohl vor Gericht kein endgültiger Beweis für eine gewerbliche Unzucht der Tochter erbracht werden konnte, wurde Elisabeth Kolomak wegen schwerer Kuppelei zu acht Monaten Gefängnis verurteilt.

Carl von Ossietzky kritisierte in der „Weltbühne“ das Verfahren: „Sie (die Richter) sind ebenso gegen kurzes Haar und kurze Kleider wie gegen die Weimarer Verfassung. Sie sind gegen die neue Selbständigkeit der jungen Mädchen. … Sie schützen einen Zustand, den es nicht mehr gibt. Sie schützen eine patriarchalische Moral, die der Krieg eigentlich niedergelegt hat, und über deren Trümmer heute seidenbestrumpfte Beinchen lustig tanzen und gelegentlich stolpern und versinken. Die nächste Generation wird schon sicherer tanzen.“[3] Carl von Ossietzky machte mit seiner Einschätzung zum Fall Kolomak deutlich, wieviel rechte, antidemokratische Gesinnung auch in der deutschen Richterschaft vorhanden war.

Der Berliner Journalist Heinz Pol schrieb: „Jemand reißt den Vorhang über Geschehnisse fort, die – Hand aufs Herz! – jeden Tag zu Dutzenden in jeder Stadt sich ereignen. Nur daß man’s nicht erfährt, daß niemand seine Stimme erhebt und anklagt. Dies eine Mal in Bremen opponierte eine Mutter: Der Vorhang fällt und eine ganze Stadt, ein ganzes Moralsystem gerät aus dem Häuschen. Untersuchungen, Vernehmungen, Erklärungen, Dementis, Protokolle, Debatten, Anträge, Verhaftungen. Soviel Lärm um ein kleines syphiliskrankes Mädchen? Da muß wohl noch viel mehr faul sein, als selbst die tapfere Frau Kolomak, Waschfrau in Bremen, in ihren kühnsten Dichterphantasien geahnt hat.“[4]

Dass der Fall Kolomak kein Einzelschicksal war, zeigen auch die Entwicklungen der folgenden Jahre, in denen der Aufbau eines staatlichen Sozial- und Gesundheitswesens vorangetrieben, Schulen gegründet und neue Ausbildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen geschaffen wurden.

Dagmar Stuckmann
März 2020

Auszug aus dem Aufsatz: „Die Neue Frau“ – Wandel der Geschlechterrollen im Bremen der Weimarer Republik, in: Bremer Frauenmuseum (Hrsg.): Mit den Stimmen der Frauen, Bremen 2019, S. 60 ff

Anmerkungen:
[1] Bremer Nachrichten vom 16.1.1927.
[2] Hinrichs/Menge/Schütze 2010, S.87ff.
[3] Von Ossietzky 2010, S. 212.
[4] Schöck.Quinteros, Dauks, Sigrid (Hrsg.): Aus den Akten auf die Bühne: „Wußten Sie, daß Ihre Tochter Herrenverkehr hatte?“ Der Fall Kolomak.

Literatur und Quellen:
Hinrichs, Tomke, Menge, Christopher, Schütze, Sabrina: „(…) daß manches faul ist im Staate Bremen“ Die Debatte über den Fall Machan-Kolomak in der Bremischen Bürgerschaft; in: Schöck-Quinteros, Eva, Dauks, Siegrid (Hrsg.) „Wußten Sie, daß Ihre Tochter Herrenverkehr hatte?“ Der Fall Kolomak, Bremen 2010, S.87 ff.

Meyer-Renschhausen, Elisabeth: Weibliche Kultur und soziale Arbeit: Eine Geschichte der Frauenbewegung am Beispiel Bremens 1810 – 1927, Köln 1989.

Meyer-Renschhausen, Elisabeth: Zur Rechtsgeschichte der Prostitution. Die gesellschaftliche „Doppelmoral“ vor Gericht, in: Gerhard, Ute (Hrsg.): Frauen in der Geschichte, München 1997, S.772–789.

Ossietzky, Carl von: Maß für Maß für Bremen, Die Weltbühne vom 21.6.1927; in: Schöck-Quinteros, Eva, Dauks, Siegrid (Hrsg.) „Wußten Sie, daß Ihre Tochter Herrenverkehr hatte?“ Der Fall Kolomak, Bremen 2010, S.212.

Schmitter, Romina: Prostitution – Das älteste Gewerbe der Welt? Fragen der Gegenwart an die Geschichte, Bremer Frauenmuseum (Hrsg), Oldenburg 2004.